Ehrenamt gegen Depressionen: Wie mich mein Engagement bei Blickwinkel Diabetes stärkt
- Blickwinkel Diabetes
- 6. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Als ich die Diagnose Diabetes bekam, war ich noch ein Kind. Von Anfang an fühlte es sich wie eine Aufgabe an, die ich ganz alleine bewältigen musste. Ich hatte das Gefühl, dass mir sowieso niemand wirklich helfen konnte, weil niemand verstand, wie es wirklich war. Besonders in meiner Pubertät, als ich an einer Schulung im Krankenhaus teilnahm, wurde mir diese Einsamkeit noch bewusster. Es waren einfach zu viele Kinder, die dort durcheinanderriefen, sich kannten oder in Gruppen zusammenfanden – und ich mittendrin, völlig überfordert. Ich kam vom Dorf, die meisten anderen aus der Stadt, und es fiel mir schwer, Anschluss zu finden. Noch schlimmer wurde es, wenn wir gemeinsam Sport machen sollten. Ich habe mich dabei immer unwohl gefühlt, und in diesen Momenten war es für mich ganz klar: Ich war die Außenseiterin.
Später versuchte ich, mir den Austausch mit anderen selbst zu suchen, und fand immer wieder Online-Accounts, die sich mit Diabetes beschäftigten. Aber auch das fühlte sich nicht richtig an. Oft waren es zu viele Informationen auf einmal, zu viele Themen, die mich überforderten. Vor allem hat mich das extrem positive Bild vom Leben mit Diabetes belastet. Für mich war Diabetes schon immer eine Herausforderung. Es beeinflusste meinen Alltag stark, und dann zu sehen, dass es für andere scheinbar „gar kein Problem“ war, machte etwas mit mir. Ich begann, mich zu fragen, ob ich etwas falsch machte – warum es für mich nicht so leicht war. Manchmal wollte oder konnte ich mich einfach nicht so intensiv mit meinem Diabetes auseinandersetzen, aber genau das wurde überall thematisiert. Das hinterließ in mir ein unterschwelliges Gefühl des Versagens.

Und dann entdeckte ich Lea. Sie postete einen Aufruf, dass sie Blickwinkel Diabetes gründen wollte – eine Plattform für echten, offenen Austausch. Es war ein impulsiver Moment, als ich mich meldete. Ich hatte einfach diesen starken Wunsch nach Veränderung. Ich wusste nicht genau, was ich mir davon erhoffte, außer eines: nicht mehr so alleine „damit“ zu sein.
Die Rolle von Blickwinkel Diabetes in meinem Leben
Seitdem bin ich ein Teil von Blickwinkel Diabetes, doch es hat eine Weile gedauert, bis ich wirklich angekommen bin. Am Anfang war alles noch unstetig – die Strukturen mussten sich erst finden, und manchmal geriet die Arbeit im Alltag unter. Ich musste mich erst daran erinnern, dass ich die Möglichkeit hatte, mich zu beteiligen. Doch je mehr ich mich engagierte, desto deutlicher spürte ich, wie gut es mir tat. Also begann ich, meine Arbeit bei Blickwinkel bewusst zu priorisieren – nicht nur, weil sie wichtig war, sondern weil sie mir selbst Kraft gab.
Meine Aufgaben sind vielfältig: Gemeinsam mit anderen betreue ich den Instagram-Kanal, moderiere hin und wieder Online-Dialoge und bin bei den Austauschwochenenden dabei. Doch meine Rolle geht darüber hinaus. Ich glaube, wenn man die anderen fragt, bin ich diejenige, die zur Tat ruft – die Praktikerin, die immer wieder fragt: Wie setzen wir das um? Ideen und Gespräche sind wertvoll, aber sie allein verändern noch nichts. Ich helfe dabei, den Fokus zu behalten, Prioritäten zu setzen und Pläne auch wirklich in die Umsetzung zu bringen. Außerdem bin ich eine der Ansprechpartnerinnen für neue Mitglieder und begleite sie beim Einstieg ins Team. Ich glaube, dass genau das eine meiner Stärken ist: für andere da zu sein, ansprechbar zu sein, sie willkommen zu heißen.
Besonders bedeutend sind für mich die vielen kleinen Momente, in denen ich merke, dass unser Engagement etwas bewirkt. Wenn wir eine Nachricht beantworten und direkt weiterhelfen können. Wenn wir Menschen miteinander verbinden. Wenn durch unseren Austausch Lösungen entstehen. Diese einzelnen Momente mögen klein erscheinen, aber zusammen bewirken sie etwas Großes.

Und noch etwas gibt mir mein Engagement: das Gefühl von Normalität und Zugehörigkeit. In meinem Alltag bin ich oft die einzige Person mit Typ-1-Diabetes. In meinem ländlichen Umfeld gibt es kaum andere in meinem Alter mit der gleichen Diagnose – kein spontaner Austausch, keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Krankheit. Doch bei Blickwinkel ist es anders. Plötzlich bin ich umgeben von Menschen, die dieselben Routinen haben wie ich, die genau wissen, wie es sich anfühlt. Wenn ich bei einem Event sehe, wie jemand beiläufig seine Pumpe checkt oder sich Insulin gibt, ist das ein stiller Moment der Verbundenheit. Es sind diese Kleinigkeiten, die mir zeigen: Hier bin ich nicht allein.
Mentale Stärke durch das Ehrenamt
Was mich am meisten an meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei Blickwinkel stärkt, ist der Austausch. Gerade in den intensiven Gesprächen bei den Online-Dialogen oder den Austauschwochenenden fühlt sich Diabetes plötzlich normal an. In diesen Momenten muss ich nichts erklären, mich für nichts entschuldigen oder Rücksicht nehmen – es ist einfach selbstverständlich. Jede*r weiß, wie es ist, wenn der Blutzucker plötzlich alles durcheinanderbringt oder wenn man mit Ärzt*innen und Krankenkassen um die richtige Versorgung kämpfen muss. Diese Gemeinsamkeit ist unheimlich entlastend. Und es sind nicht nur die ernsten Gespräche, sondern auch die lockeren Abende mit gemeinsamen Spielen oder der spontane Austausch über Alltagsdinge, die mir zeigen: Ich bin nicht allein damit.
Aber auch die Erfahrungen mit den anderen Teammitgliedern sind für mich von unschätzbarem Wert. Das Gefühl, in einem Team zu arbeiten, das dieselben ethischen und moralischen Werte teilt, schafft einen Safe Space, in dem wir uns gegenseitig stärken. Immer wieder gibt es diese kleinen Momente, in denen wir uns einig sind – wenn es darum geht, inklusiv zu sein, niedrigschwellige Angebote zu schaffen oder bewusst zu gendern. Das sind die Dinge, die uns verbinden und mir das Gefühl geben, hier genau richtig zu sein. Wir lachen zusammen, aber wir können auch über ernste Themen sprechen. Dieser sichere Raum, in dem man sich gegenseitig unterstützt, hat mir geholfen, nicht nur als Ehrenamtliche zu wachsen, sondern auch als Mensch.

Fazit: Mich für andere stark zu machen, macht mich selbst stärker
Früher hatte ich immer wieder depressive Episoden – manchmal ausgelöst durch äußere Veränderungen wie einen Umzug, oft aber auch einfach durch eine tiefe mentale Erschöpfung. Es fühlte sich an, als müsste ich ständig mithalten, als würde ich immer wieder über meine Grenzen hinausgehen, bis ich nicht mehr konnte. Jule hat in ihrem Song „Bis zur Erschöpfung“ diese Gefühle unglaublich treffend beschrieben. Sie singt: „Ich gebe mein Bestes und versuche doch Schritt zu halten… Bis zur Erschöpfung und noch darüber hinaus. Das bisschen Stress halte ich doch wohl noch aus… bis ich kann nicht mehr und ich will hier raus.“ Ihr Song beschreibt genau das, was ich damals gefühlt habe. - (Hier kannst du den Song nachhören: Jule - Bis zur Erschöpfung auf Spotify.)
Doch seit etwa zwei Jahren ist das anders. Ich habe keine depressive Episode mehr erlebt – so lange stabil zu sein, kannte ich vorher nicht. Ein Moment, der mir das bewusst gemacht hat, war eine Autofahrt. Plötzlich merkte ich: Da ist nichts mehr übrig von der Depression. Und nicht nur das – es fühlte sich nicht mehr falsch an, dass es mir gut geht. Ich bin widerstandsfähiger geworden und belastbarer. Und ich glaube, viel davon hat mit meinem Ehrenamt zu tun.
Diabetes hat mir oft das Gefühl genommen, Kontrolle über mein eigenes Leben zu haben. Beim Ehrenamt habe ich dieses Gefühl der Selbstwirksamkeit zurückgewonnen. Ich kann Dinge bewegen, ich kann etwas verändern – und nicht nur für mich, sondern für andere. Auch die vielen kleinen Rückmeldungen, das Lob, die wertschätzenden Worte geben mir Halt. Ich sehe, dass meine Arbeit einen Unterschied macht, und das macht mich stärker.
Ich habe gelernt, dass ich mutiger bin, als ich dachte. Dass ich nicht nur „irgendwie klarkomme“, sondern dass ich wirklich gut mit meinem Diabetes leben kann. Und dass ich nicht alleine bin. Denn am Ende ist es vor allem das Gemeinschaftsgefühl, das mich trägt. Zu wissen, dass man sich gegenseitig versteht, unterstützt, zuhört – das verändert alles.
Ich engagiere mich ehrenamtlich bei Blickwinkel Diabetes, weil mich für andere stark zu machen, auch mich selbst stärker macht.
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