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Wie der Diabetes mein Leben geprägt hat

"Ab dann solltest du eigentlich auf eigenen Beinen stehen können, Freundchen."


Hi, mein Name ist Freia, ich bin 26 Jahre alt und dieser Gedanke schießt mir durch den Kopf, wenn ich daran denke, dass mein Diabetes nun volljährig wird.

An dieser Stelle möchte ich eine Triggerwarnung aussprechen, im Nachfolgendem werden Themen wie chronische Erkrankungen und Depression, sowie Ernährung und Essgewohnheiten behandelt.


Seit nun 18 Jahren hat mein Diabetes mich durch mein Leben begleitet und der Gedanke, dass wir lebenslang miteinander auskommen müssen, bereitet mir manchmal trotzdem noch Angst.

Mal waren wir eins, mal haben wir miteinander gekämpft und sogar versucht uns zu ignorieren.

Der Jahrestag lässt mich wehmütig werden und in Erinnerungen schwelgen. Ich glaube der Diabetes hat mir manches genommen, aber auch einiges geschenkt. Auf jeden Fall hat die Diagnose erstmal alles verändert und doch kann ich es mir heute kaum noch anders vorstellen.



Die Diagnose oder auch deine "Geburt"


Ich erinnere mich, wie du in mein Leben tratest und ich dich in kindlicher Naivität einfach erstmal annahm. Irgendwie war es ja auch spannend und außerdem machtest du mich, laut Mama und Papa, dadurch zu etwas Besonderem.


Ab nun zogst du mit mir und meiner Familie in ein nettes Haus mit Garten in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands ein. Auch wenn meine Eltern und Ärzte sich die größte Mühe gaben, dich mir als etwas "nicht so schlimmes" zu verkaufen, merkte ich schnell, dass mir einige Seiten an dir nicht gefielen.


Der Diabetes, meine Kindheit und ich


Du zwangst mich aufzuessen, obwohl ich eigentlich schon satt war, nichts essen zu dürfen, obwohl der Hunger groß war, trinken zu müssen, obwohl ich so gar keinen Durst hatte und dies obendrein zu den unpassensten Zeiten.


Dank dir musste ich auf einmal wissen wann genau ich wie viel von welchem Lebensmittel zu mir nehme, was das mit meinem Körper macht und welche Handlungsschritte dagegen einzuleiten sind. Ich muss sagen, das war ganz schön anstrengend und heute ist meine Beziehung zu Essen ziemlich davon geprägt.

Einen Saft zu trinken, einfach nur weil er schmeckt, ist für mich eine komische Vorstellung, denn Saft hast du ganz klar als das "Hypo - Getränk deiner Wahl" beansprucht. Für jede Mahlzeit wird zu allererst der Rechner im Kopf angeworfen und sie wird in ihre Einzelteile zerlegt und analysiert.



Ich glaube, du hast mir viel Leichtigkeit, Spontanität und Genuss genommen. Heute denke ich manchmal, mir fehlt etwas Humor oder ich sehe Dinge zu ernst. Ich musste auf einmal ziemlich erwachsen handeln sowie Verantwortung übernehmen und merkte, dass du mein Leben mit einem Art Nebel der Ernsthaftigtkeit überzogen hattest.



Der Diabetes, meine Jugend und ich


Nachdem ich dich in meiner kindlichen Naivität einfach so in meinem Leben angenommen hatte, rebellierte mein pubertierendes Ich umso mehr. Ich fragte mich, warum es eigentlich mich getroffen hatte, wenn die Chancen doch so gering waren. Ich war die einzige Typ 1 Diabetikerin, die ich, sowie auch meine Familie und mein Umfeld, kannte. Dadurch kam ich mir oft ganz allein vor und dies weckte in mir in den Gedanken, dass mich sowieso niemand versteht.

Du machtest es mir so gar nicht leicht in dieser Zeit. Die Hormonschwankungen einer heranwachsenden jungen Frau ließen auch dich zum Achterbahn fahren verleiten, was sich natürlich in meiner allgemeinen psychischen Verfassung widerspiegelte. In meiner Jugend wurde mir so richtig bewusst, dass ich eigentlich durch dich mein Leben lang in einer anderen Realität als mein Umfeld leben würde. Als Kind dachte ich, du machst mich irgendwie zu etwas Besonderem, doch ein paar Jahre später wollte ich einfach nur "normal" sein.

Auf einmal warst du nur noch nervig, du warst für mich etwas, was mir die Leichtigkeit des Lebens und schließlich die Lebensfreude nahm und mich davon abhielt, einfach Ich sein zu können.

Als du zehn Jahre alt warst, zwangst unter anderem du, der auf alle Probleme wie ein Katalysator wirkte, mich in die Knie. Neben dir hatte ich nun eine weitere Begleitung in meinem Leben, die Depression.


Obwohl wir beide nun schon einige Jahre des Kampfes hinter uns hatten, war noch kein Ende in Sicht. Verzweifelt wie ich war, nahm ich den Vorschlag der Depression, dich doch einfach so gut es geht zu ignorieren, an.

Es verging Zeit und nachdem ich es dank Therapie und Freunden geschafft hatte, die Depression irgendwie wieder abzuschütteln, brauchte es noch einen Moment, bis ich mich auch dir wieder widmen konnte. Erst dann verstand ich, wie tief ihr beide miteinander verwurzelt wart und beschloss, es wurde Zeit, Frieden mit dir zu schließen.


Der Diabetes, mein Leben und ich


Heute bist du weder Feind noch Freund, sondern einfach ein großer Teil von mir selbst geworden.

Ich bin dir dankbar, dass du mir so viel Wissen über meinen Körper und unsere Nahrung geschenkt hast. Durch dich bin ich achtsamer im Umgang mit meiner Ernährung, verstehe die Signale meines Körpers und lerne immer weiter dazu. Auch wenn ich oft lieber anderen Interessen nachgegangen wäre, als deinem zeitaufwendigen Management und dadurch sicherlich einiges an mir vorbei gegangen ist, hast du dadurch in mir das Talent der Organisation erblühen lassen.

Manchmal fällt es mir immer noch schwer in bestimmten Momenten loszulassen und den Kopf einfach auszuschalten. Bemerkbar gemacht hat sich dies in all den Jahren vor allem beim Einschlafprozess. Jeden Abend dafür Sorge zu tragen, einigermaßen gut durch die Nacht zu kommen, kann ermüdend sein.


Es gibt genügend Momente in denen du immer noch echt nervst, aber heute weiß ich, dass du dich auch immer wieder beruhigst. Ich habe jeden Tag die Chance das Ruder wieder rumzureißen, denn du hast mir beigebracht nicht aufzugeben.

In seltenen Momenten trauere ich immer noch der kleinen unbeschwerten Freia von vor deiner Zeit hinterher, doch kann ich mich mir heute ohne dich nicht mehr vorstellen. Wir gehören halt zusammen, du und ich, und für unsere Zukunft wünsche ich uns beiden nur das Beste.


Happy Birthday!

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