Wenn jemand die Diagnose Diabetes bekommt, ist das meist auch für die Familie und enge Freund*innen eine Umstellung. Sie kriegen quasi automatisch eine eigene Diagnose: Diabetes Typ F.
Auch durch diese Diagnose entstehen neue Gedanken und die Betroffenen müssen ihr Leben in bestimmten Situationen anpassen und umstellen. Ich würde zum Beispiel sagen, dass der Umgang mit mir nach meiner Diagnose Diabetes Typ 1 ein anderer wurde bzw. einfach ganz neue Themen hinzu kamen. Das war auch für Bekannte und Kolleg*innen so, die mir nicht so nah stehen wie meine Familie, aber trotzdem viel Zeit in meinem Alltag mit mir verbringen.
Bei Blickwinkel haben wir uns mit dem Thema „Typ F“ einen Monat lang auseinandergesetzt und dafür viele Interviews geführt, aber auch unserer Community Fragen gestellt.
Zu Beginn der Kampagne ging es um die Erfahrungen bei und nach der Diagnose. Dabei haben wir vor allem nach dem Umgang der Familie mit der Diabetes Erkrankung gefragt. Aus der Blickwinkel Community haben uns viele berichtet, dass die Familie meist schockiert reagiert hat. Oft kamen bei Mütter Sorgen, aber auch Schuldgefühle auf. Im Laufe der Zeit scheint es in den meisten Familien zur Normalität geworden zu sein. Einige finden es schade, dass das Interesse abnimmt, andere wiederum scheinen dankbar, dass das Thema Diabetes nicht so im Mittelpunkt steht. Genervt sind viele von Aussagen wie „Du schaffst das schon!“, „Gut, dass du nur Diabetes hast!“, „Darfst du das essen/trinken?“ und „Langsam musst du das aber mal in den Griff bekommen!“, freuen sich aber über Fragen und ehrlich gemeintes Interesse. 91% aller Antwortenden aus unserer Community fühlen sich von ihrer Familie unterstützt.
Aus unserem Team hat Tales Mama als Erste von ihren Erinnerungen an den Tag der Diagnose berichtet. Sie sagt: „Ich konnte tatsächlich erstmal nichts damit anfangen.“ Sie selbst war zunächst nicht mit im Krankenhaus, sondern hat einen Anruf von ihrem damaligen Mann erhalten und ist sofort losgefahren.
Ihre Erinnerungen an das Bild, was sich ihr dann im Krankenhaus bot: „Da war das ganze Bohei, mit Kanüle und so. Alles ganz übel (…) an so einem kleinen Menschen. Mit den Nadeln und so weiter und am Tropf. Wie das weitergeht, hab ich mich gefragt (…) sie war ja noch ganz klein.“ Es folgten zwei Tage am Tropf für Tale. Für ihre Mutter kam danach der schlimmste Moment. „Für mich war das schlimmste der Zeitpunkt als Tale vom Tropf kam, nach zwei Tagen, und sie sich dann selber spritzen sollte. (…) Ich konnte das gar nicht glauben, dass es das jetzt sein sollte, davon so aus dem heiteren Himmel so betroffen zu sein.“ Sie wurden geschult und hat „häppchenweise“ erklärt bekommen, wie das mit dem Insulin funktioniert. Tales Mutter erinnert sich: „Ich hab mich mit viel Überwindung selber (…) gestochen, damit ich auch weiß wie das für meine Tochter ist, dachte aber „und das soll sie jetzt ihr leben lang machen?“ . Wieso sind die alle zu dämlich, da wird es doch wohl ne Möglichkeit geben, um das besser zu lösen als mit drei mal am Tag spritzen und x mal am Tag in den Finger stechen. Der Professor hat gesagt (…) früher wäre man daran gestorben. Wir haben halt keine Lobby, die Diabetiker, so und damit sind wir dann nach Hause gefahren.“ Wie bei vielen ging dann das Abendteuer Alltag zuhause los. Tale selber berichtet im Blogbeitrag „Diabetes Typ 1 Diagnose in der Kindheit“ von ihrer Diagnose.
Ein bisschen anders war das bei Lea aus unserem Team. Sie war schon 17 Jahre alt und wurde bei einem Schüleraustausch in Amerika diagnostiziert. Ihre Eltern waren also gar nicht direkt dabei. In einem Video auf Instagram berichtet Lea selbst davon:
Zu Beginn hat Lea am Telefon und per Skype nicht alles erzählt. Auch sie dachte zunächst wirklich, dass es vielleicht eingebildete Symptome sind - das sagten auch die Ärzte vor Ort. Sie dachten es liegt am Heimweh. Lea wollte ihre Eltern nicht beunruhigen.
Nachdem sie dann aber nach 2-3 Monaten die Diagnose Diabetes Typ 1 erhalten hat, erzählte sie ihren Eltern dann doch alles. Erstmal haben sie eher verhalten reagiert, weil sie gar nicht wussten, was eine solche Erkrankung bedeutet. Lea war dann sehr direkt und hat ihnen vehement - und der Situation geschuldet teilweise auch aggressiv - klar gemacht, dass es eine unheilbare Krankheit ist und sie selbst alleine gerade damit überfordert ist. Daraufhin haben ihre Eltern verstanden worum es geht und haben die medizinischen Daten über den Hausarzt an eine Fachklinik gegeben. Dort waren sie sehr erschrocken darüber wie wenig für Lea - immer noch in Amerika - gemacht wird und haben empfohlen Lea so schnell es geht nach Hause zu holen. Leas Eltern haben es mit der Angst zu tun bekommen und sich ab diesem Zeitpunkt große Sorgen um ihre Tochter gemacht.
Lea war erleichtert als sie den Anruf von ihren Eltern erhalten hat und schnell wusste, dass sie nach Hause kann. Das Auslandsjahr war ihr großer Traum gewesen und sie hatte sich zuvor nicht getraut einen Abbruch anzusprechen.
Am Flughafen waren Leas Eltern dann schockiert. Sie hatten ein fröhliches Mädchen nach Amerika geschickt und sahen nun ihre Tochter abgemagert, schwach, eingefallen, still und teilweise hektisch (was später als Angststörung diagnostiziert wurde) vor sich, wie sie sich selbst kaum auf den Beinen halten konnte.
Weihnachten hat Lea dann zuhause verbracht. Sie musste am zweiten Weihnachtsfeiertag dann allerdings in die Klinik, um richtig eingestellt zu werden. Als die Familie darüber informiert wurde, dass es zwei Wochen dauern werde, war das quasi ein zweiter Schock. Gerade waren alle froh beieinander zu sein und schon wurden sie wieder getrennt.
Erst an Silvester wurde Lea entlassen. Dann ging es los mit dem eigenständigen Einschätzen, was beim Neu-Jahrs-Berliner schon überfordernd war. Lea hat von Anfang an alles alleine gemacht. Ihre Eltern hatten zwar eine Schulung bekommen, aber Lea wollte mit 17 alles eigenständig und ohne große Unterstützung schaffen.
Und trotzdem bangen für die gesamte Familie nicht nur ein neues Jahr, sondern auch ein neuer Alltag:
Leas Tante war über die Feiertage zu Besuch und erinnert sich noch heute an einige Situationen, in denen sie nicht wusste wie sie mit der Erkrankung ihrer Nichte umgehen soll. Sie war sich z.B. nicht sicher, was sie zu Weihnachten schenken soll. Im Restaurant wurde einmal der Koch gefragt, wie schwer eine große Ofenkartoffel ist und wegen des Spritz-Ess-Abstands musste Lea oft vor den Mahlzeiten warten, was für die Familie manchmal schwer auszuhalten war. Auch wenn Lea schon 17 Jahre alt war, wird deutlich, dass sich auch das Leben ihrer Familie durch die Diagnose verändert hat und sie sich mit vielen neuen Themen auseinandersetzen mussten.
Auch ich habe das nach meiner Diagnose erlebt. Ich war schon 23 Jahre alt und für meine Familie war es ebenso ein Schock. Im Zuge der Kampagne habe ich an meinem ersten Jahrestag mit meinen Eltern und meinen Schwestern über die Diagnose und meinen neuen Alltag gesprochen. Das waren sehr berührende und bewegende Gespräche und ich habe noch einmal gemerkt wie dankbar ich für meine Familie und ihre Unterstützung bin. Für Blickwinkel habe ich das auf Instagram in einer ausführlichen Story festgehalten, die ihr euch beim Highlight „Jennas Familie“ anschauen könnt. In schriftlicher Form gibt es den passenden Blogbeitrag hier: „Wenn die Zeit nach der Diagnose „Diabetes mellitus Typ1“ eine Jahreszeit wäre…“.
Und auch Kathrin aus dem Blickwinkel Team hat einen Blogbeitrag über die Zeit der Diagnose und den Umgang ihrer Familie, Freund*innen und Studienkolleg*innen mit der neuen Situation geschrieben. Sie war gerade mitten in ihrem dritten Semester im Studium als sie ihre Diagnose bekam. Die Familie war nicht mehr so nah dran, in die Bib mussten die Hyposnacks geschmuggelt werden und in der WG wurden die wirklich wichtigen Fragen gestellt. Darüber könnt ihr hier alles selbst nachlesen: „Alltag mit Diabetes mellitus Typ 1 - Wie ging/geht mein Umfeld damit um?“
Egal ob als Kind, Teenager, bei den Eltern wohnend oder nach dem Auszug: die Menschen im nahen Umfeld sind auch betroffen und müssen einen Umgang mit dem neuen Alltag und verschiedensten Themen erst einmal finden. Bei all der Unterstützung, die Familie und Freund*innen für uns leisten, finde ich es wichtig, sich das hin und wieder auch einmal bewusst zu machen.
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