top of page

Ärztin im Interview - Stigma ist keine Typfrage

Disclaimer: Dieses Interview wurde unter der Bedingung geführt, dass die Identität der interviewten Person anonym bleibt. Wir möchten euch bitten, respektvoll mit der Anonymität umzugehen und ihre Privatsphäre zu respektieren. Danke für euer Verständnis.


Was ist dein Fachbereich?

Ich bin aktuell mitten in der Weiterbildung zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie.


Inwiefern könnte Diabetes in deinem Fachgebiet eine Rolle spielen?

Einerseits haben wir natürlich immer wieder Patient*innen, die Diabetes haben, wobei im Krankenhaus vor allem die Gabe von Insulin bei insulinpflichtigen Menschen eine wichtige Rolle spielt, was gerade im akutpsychiatrischen Setting mit den teilweise stark veränderten Essgewohnheiten (z.B. Nahrungsverweigerung oder übermäßige Nahrungsaufnahme) oder bei Ablehnung von Blutzuckermessungen häufig eine Herausforderung darstellt. Andererseits zählt das metabolische Syndrom mit einem damit einhergehenden Diabetes mellitus Typ 2 zu einer der wichtigsten unerwünschten Nebenwirkungen einiger häufig verschriebener Medikamente. Es ist also immer wichtig, im Laufe der medikamentösen Behandlung auch die Langzeitfolgen zu überwachen, um eine Diabetesbehandlung möglichst frühzeitig beginnen zu können. 


Welchen Einfluss hat Diabetes auf die Patient*innen in deinem Fachbereich?

Patient*innen in akuten psychischen Krisen können ihren Diabetes oft nicht gut alleine managen. Das führt dazu, dass gerade Menschen mit einem in der Krise schlecht eingestellten* Diabetes über den Zeitraum der Akutbehandlung eine unzureichende Behandlung bekommen, wenn sie dies krankheitsbedingt ablehnen.

Darüber hinaus stellt Diabetes für viele Patient*innen eine Langzeitfolge der psychopharmakologischen Behandlung dar.

Außerdem haben insbesondere Menschen mit schweren, chronisch-psychischen Erkrankungen oft Schwierigkeiten, regelmäßig ihre Hausärzt*innen aufzusuchen, weshalb auch die Behandlung der internistischen chronischen Erkrankungen teilweise durch die Psychiater*innen erfolgt. Dies führt dazu, dass die medizinische Versorgung in diesen Bereichen nicht optimal ist im Vergleich zu Menschen, die regelmäßig in eine diabetologische Praxis gehen. Teilweise wird die medikamentöse Behandlung auch aufgrund der psychiatrischen Grunderkrankung nicht so konsequent durchgeführt wie empfohlen, was zusammen mit der fehlenden fachärztlichen Betreuung zu mehr Langzeitfolgen für die Betroffenen führt.


Inwiefern beeinflusst Diabetes die Behandlungspläne oder -protokolle in deinem Bereich?

Wir haben in der Psychiatrie für Diabetes standardisierte Behandlungspläne, da die internistische Expertise zur detaillierten medikamentösen Behandlung bei uns fehlt. Die psychopharmakologische Behandlung wird, soweit psychiatrisch vertretbar, an die unerwünschten Nebenwirkungen angepasst, d.h. wenn Patient*innen eine starke Gewichtszunahme durch ein bestimmtes Medikament haben, wird dies i.d.R. auf ein anderes Präparat umgestellt, um u.a. die Gefahr einer langfristigen Entwicklung eines Diabetes zu reduzieren. 


Was ist Diabetes eigentlich?

Diabetes ist eine Stoffwechselkrankheit, bei der die Insulinproduktion des Pankreas nicht ausreicht, die Zellen des Körpers mit ausreichend Glucose zu versorgen. Dies kann entweder an der fehlenden Produktion von Insulin bei Typ 1 Diabetes liegen oder an der pathologisch gesteigerten Insulintoleranz der zu versorgenden Zellen. Darüber hinaus gibt es noch besondere Formen von Diabetes, die z. B. in der Schwangerschaft oder bei bestimmten Genen vorkommen.

Wenn der Diabetes nicht (adäquat) behandelt wird,kann es zu lebensgefährlichen Unter- bzw. Überzuckern kommen. Langfristig drohen bei unzureichender Behandlung Langzeitschäden an allen Organsystemen.

 

Könntest du den Ablauf des Setzens eines Infusionssets für Insulin näher erläutern?

Leider nein. Die Anlage von Infusionssets für Insulin wird in unserem Fachgebiet aufgrund der fehlenden Expertise nicht durchgeführt, sondern wäre Gegenstand eines Konzils mit einer Praxis bzw. Klinik mit entsprechender Kompetenz. 


Was weißt du über AID Systeme?

AID-Systeme können die Insulingabe präziser steuern als manuelle Messungen, da sie mehr Blutzuckerdaten haben als beim manuellen Messen. Damit kann die natürliche Insulinausschüttung besser imitiert werden.


Kannst du erklären, wie automatisierte Insulinabgabesysteme (AID-Systeme) funktionieren?

Die AID-Systeme messen den Blutzucker und geben dann entsprechend einem Algorithmus Insulin ab, was zu einer schnellen Aufnahme von Glucose führt und die ohne Insulingabe zu erwartende Hyperglykämie verhindert. Bei niedrigem Blutzucker geben sie ein Signal ab, damit oral wieder mehr Zucker aufgenommen werden kann, um eine Hypoglykämie zu verhindern.


Inwiefern erleichtern AID-Systeme das Leben von Menschen mit Diabetes?

Durch den Wegfall von häufigen manuellen Messungen wird die Kontrolle* des Blutzuckers leichter und auch die Insulingabe weniger „auffällig“. Eine gute Einstellung* des Blutzuckers wird dadurch erleichtert, was auch Langzeitfolgen reduziert.


Was weißt du über Glucosesensoren?

Glucosesensoren messen den Blutzucker kontinuierlich. Dabei können die Werte auch auf Nachfrage per App abgelesen werden, sonst können sie in Verbindung mit einem AID zur Optimierung des Blutzuckerprofils beitragen. 


Welche Vorteile bieten Glucosesensoren im Vergleich zu herkömmlichen Messmethoden?

Es sind weniger manuelle Messungen erforderlich, dennoch sind sehr viele Messdaten verfügbar, was zu einer besseren individuellen Einstellung des Blutzuckers genutzt werden kann. So sind weitaus sinnvollere Aussagen bzgl. der Einstellung des Diabetes möglich als bspw. mittels der Therapieüberwachung per HbA1c oder der manuellen Butzuckertagebücher. So kann die Therapie optimal angepasst und möglicherweise problematische Phasen der Hypo- bzw. Hyperglykämie besser erkannt und vorgebeugt werden.



Was ist bei Diabetes wichtig?

Die Frage finde ich auch sehr vage. Wenn ich antworten müsste: Wichtig bei Diabetes ist wie bei jeder chronischen Erkrankung eine gute Aufklärung der Betroffenen und deren Umfeld, um die Behandlung möglichst frühzeitig und leitliniengerecht zu gestalten. Darüber hinaus sind ein akzeptierender Umgang mit der Erkrankung und die Integration der damit einhergehenden Einschränkungen in den eigenen Alltag und das eigene Selbstverständnis wichtig.


Welche speziellen Aspekte sollten bei der Betreuung von Menschen mit Diabetes berücksichtigt werden?

Es sollte auf jeden Fall darauf geachtet werden, dass es nicht zu schweren Entgleisungen des Blutzuckers kommt, welche potenziell gefährliche medizinische Folgen haben können. Dabei sollten die Betreuenden bzgl. der Warnsymptome geschult werden und im Umgang mit Hyper- und Hypoglykämien.


Inwiefern spielt eine umfassende Aufklärung und Unterstützung bei der Bewältigung des täglichen Lebens mit Diabetes eine Rolle?

Nur wer gut über seine Erkrankung Bescheid weiß, kann lernen, achtsam mit ihr umzugehen. Dabei ist nicht nur die Aufklärung der Betroffenen, sondern auch das Involvieren der engsten Bezugspersonen und im Fall von Kindern und Jugendlichen der Aufsichtspersonen wichtig.


Wie unterscheidet man die Diabetes Typen?

Man kann die verschiedenen Diabetestypen nach ihrer Ätiologie oder den Symptomen unterscheiden. Dabei ist oft auch das Erkrankungsalter unterschiedlich. Ebenso unterscheidet sich die Behandlung.


Könntest du die Hauptunterschiede zwischen Diabetes Typ 1 und Typ 2 erläutern?

Typ 1 Diabetes manifestiert sich nach autoimmuner Zerstörung der meisten ß-Zellen im Pankreas oft im jüngeren Alter und fällt am häufigsten durch die Symptome der Hyperglucosurie sowie der (beginnenden) Ketoazidose auf. Die Behandlung beinhaltet immer Insulin und muss lebenslang fortgesetzt werden.

Typ 2 Diabetes hat eine sehr starke genetische Komponente und manifestiert sich oft im höheren Lebensalter. Auffallend sind oft in der Routineuntersuchung veränderte Laborparameter. Die Insulinproduktion findet weiterhin im Pankreas statt, ist aber nicht ausreichend, um bei entstandener Insulinresistenz die Glucoseversorgung der Zellen zu gewährleisten. Die Behandlung kann abhängig vom Schweregrad rein konservativ (also mit einer Veränderung der Lebensgewohnheiten) oder medikamentös erfolgen. Eine Insulinbehandlung ist der letzte Schritt im Stufenschema.


Wie kann man dazu beitragen, Stigmatisierung im Zusammenhang mit Diabetes zu reduzieren?

Eine ausreichende Aufklärung über die genetischen Ursachen, welche gerade auch beim stark stigmatisierten Typ 2 Diabetes eine wichtige Rolle spielen, kann dabei helfen, dass Menschen sich nicht schuldig für ihre Erkrankung fühlen. Bei Diabetes mellitus Typ 1 sollte der Fokus der Aufklärung auf der Normalisierung der Blutzuckermessungen bzw. des AID/der Insulingaben liegen, um das damit insbesondere in der Schulzeit vergesellschaftete Gefühl zu reduzieren, als Außenseiter*in dazustehen und aufgrund der Erkrankung ausgeschlossen zu werden oder sich bei Selbststigmatisierung aus sozialen Kontexten zurückzuziehen. Dabei gilt es, ähnlich wie bei anderen Erkrankungen, nicht nur die gesamte Gesellschaft aufzuklären, sondern auch sichere Räume für Betroffene zu schaffen, in denen sie sich mit anderen austauschen können über ihre gemeinsamen Erfahrungen. 


Welche Rolle spielt Aufklärung in der Verminderung von Stigmata bei Diabetes?

Aufklärung spielt eine zentrale Rolle, ebenso wie die Erfahrung, dass man mit seiner Erkrankung und den damit einhergehenden Herausforderungen und ggf. vorhandenen Einschränkungen nicht alleine ist.


Wie können medizinische Fachkräfte dazu beitragen, ein unterstützendes Umfeld für Menschen mit Diabetes zu schaffen?

Wichtig ist wie in der Gesamtgesellschaft auch eine ausreichende grundlegende Aufklärung, um die medizinische Versorgung in allen Fachbereichen an den Diabetes anpassen zu können. Dabei sollte es auch niederschwellige Möglichkeiten zur Kooperation mit diabetologischen Praxen bzw. Ambulanzen geben, da nicht in jeder Fachrichtung das spezialisierte Wissen zur medikamentösen Therapie in allen Details vorhanden sein kann.


*Diese wertenden Formulierungen würden wir nicht treffen. Formulierungen, die wir günstiger finden, sind: Werte im Zielbereich halten, hohe Blutzuckerwerte und niedrige Blutzuckerwerte.


58 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen
bottom of page